Der Einstieg in die Digitalisierung wird oft als „wir kaufen dieses Software-Tool“ oder „wir abonnieren diesen Stream“ verstanden. Während diese Denkweise in der Welt der Verbraucher oft Sinn macht, ist sie in der Welt der Unternehmen oftmals wenig hilfreich.

Warum nicht? Weil digitale Verbraucherprodukte in der Regel mit einem hochgradig standardisierten, integrierten digitalen Prozess geliefert werden. Anders bei Unternehmen: Hier müssen sich digitale Produkte in die bestehenden, organisch gewachsenen Prozesse bei jeder grossen Organisation individuell einfügen. Gleichzeitig müssen grosse Organisationen ihre Prozesse auf die digitale Welt ausrichten, um die Vorteile der Digitalisierung voll ausschöpfen zu können.

In diesem Artikel geht es nicht um ein konkretes Beispiel, sondern um die grundlegenden Konzepte digitaler Prozesse und der digitalen Transformation in der Unternehmenswelt. Meine Überlegungen beruhen dabei auf mehr als 10 Jahren Berufserfahrung, wobei ich während 5 Jahren ein Unternehmen mitgeleitet habe, das digitale Produkte für Unternehmenskunden anbietet. Als Erstes werde ich die Merkmale eines digitalen Prozesses erläutern. Dann nehme ich Sie mit auf eine Reise in die faszinierende Welt der digitalen Transformation – hoffentlich einigermassen verständlich und plausibel.

Digitale Prozesse

Digitale Prozesse werden oft als Grundstein für effizienteres Arbeiten interpretiert. Aber wie unterscheiden sich digitale Prozesse von analogen Prozessen?

Zunächst einmal ermöglichen digitale Prozesse einen nicht-linearen Handlungsablauf. Das bedeutet, dass Prozessschritte parallel ablaufen können, wobei natürlich dieselben Informationen verwendet werden. Dies ist besonders hilfreich bei Prozessen, die Konsultationen und Feedback von verschiedenen Interessengruppen erfordern.

Digitale Prozesse beschleunigen die Durchlaufzeit und verbessern die Qualität der Beratung, da Informationen gemeinsam genutzt werden und die typischen Rückkopplungsschleifen vermieden werden können. Dies ermöglicht asynchrones Arbeiten. Das bedeutet, dass die Arbeit jederzeit und von überall aus erledigt werden kann. Das Einzige, was man zum Arbeiten braucht, ist ein Computer und eine Internetverbindung. Insbesondere bei Genehmigungsprozessen sind physische Treffen zur Genehmigung von Entscheidungen und zur Zeichnung von Papieren nicht mehr erforderlich – jeder leistet seinen Beitrag, wobei Ort und Zeit keine Rolle mehr spielen.

Erinnern Sie sich noch an die Zeiten, als Prozessbeschreibungen irgendwo auf dem Server im QMS-Ordner gespeichert waren oder sogar ausgedruckt an alle Mitarbeitenden verteilt wurden? Haben Sie sich jemals gefragt, warum sich die Leute nicht an diese Prozesse gehalten haben?

Digitale Prozesse werden in der Regel mithilfe von Workflow-Frameworks modelliert, welche die Definition spezifischer Rollen, Auslöser und Benachrichtigungen ermöglichen. So werden die richtigen Personen immer zur richtigen Zeit aktivieren. In der digitalen Welt wird die Einhaltung der Prozesse dabei automatisiert gesteuert – ohne Emotionen, ohne Chaos auf dem Schreibtisch und ohne Papierformulare, die an eine zentrale Stelle zurückgeschickt und manuell in einen Computer eingegeben werden müssen.

Und nicht zuletzt ist der Status eines digitalen Prozesses für alle Beteiligten jederzeit sichtbar. Im Gegensatz zu analogen Prozessen wissen Sie genau, wer den Prozessfluss blockiert, wer eine Entscheidung abgelehnt hat oder wer Änderungen wieder zurücknehmen wollte. Prozesstransparenz trägt dazu bei, diese Arbeit effizienter zu gestalten, erfordert aber in der Regel einen gewissen kulturellen Wandel, denn bei digitalen Prozessen ist transparent erkennbar, wer seine Arbeit erledigt hat und wer nicht.

Sofort loslegen …

Sie haben also erfolgreich Ihre ersten digitalen Prozesse geschaffen, und nun ist es an der Zeit, digitale Inhalte hinzuzufügen. Mein Rat: Beginnen Sie noch heute, auch wenn noch nicht alles perfekt ist.

Denken Sie an das allererste iPhone von Apple im Jahr 2007: Copy-Paste war in iOS 1.0 noch nicht verfügbar, und den App Store gab es auch noch nicht. Trotzdem wurde das iPhone von der Verbraucherwelt wie eine neue Religion angenommen. Das ist ein grundlegender Unterschied zur Unternehmenswelt: Viele grosse Organisationen sind immer noch der Meinung, dass man mit einem digitalen Werkzeug, das noch nicht perfekt ist, nicht live gehen kann.

Dennoch ist ein digitaler Prozess in seiner allerersten Version viel näher an der Perfektion, als es ein analoger oder manueller Prozess jemals sein wird! Die Schlüsselelemente der digitalen Transformation sind Geschwindigkeit und Einfachheit. Beides wird erreicht, indem man schnell mit einer nicht perfekten ersten Version beginnt und diese dann verbessert. Meiner Erfahrung nach ist der Wendepunkt der digitalen Transformation immer der Moment, in dem die Benutzer ihre digitalen Inhalte zum ersten Mal in ihrer neuen Form sehen. Plötzlich wird die digitale Transformation greifbar: Die Nutzer sehen ihre eigenen Inhalte in einer neuen Form – und genau an diesem Punkt enden die meisten Legacy-Projekte: Wir hatten einen erfolgreichen Go-Live, danke für die harte Arbeit, lasst uns das Projekt abschliessen. In der digitalen Welt beginnt die eigentliche Arbeit erst jetzt, und sie hat einen besonderen Namen: Iteration.

…. dann ständig iterieren

Die Iteration ist das digitale Äquivalent des bekannten „Plan-Do-Check-Act“-Zyklus (PDCA-Zyklus). Der PDCA-Zyklus hat seinen Ursprung in der Fertigungsindustrie und wurde zur Optimierung von Fliessbändern und Fabriken entwickelt. Während es nicht einfach ist, Ihre Fliessbänder täglich oder wöchentlich umzustellen, ist die Anpassung eines digitalen, auf Workflows basierenden Prozesses unkompliziert möglich. Laden Sie einfach die neuen Workflow-Versionen hoch, und alle Ihre Mitarbeitenden können sofort gemäss dem geänderten Prozess arbeiten.

Die Unternehmenswelt braucht einen kulturellen Wandel, der Iterationen zulässt: Iteration bedeutet, sich einzugestehen, dass die vorherige Version nicht perfekt war, also zuzugeben, dass jemand einen Fehler gemacht hat. Iteration bedeutet aber auch, auf das Feedback von Mitarbeitenden und Kunden zu hören und dieses Feedback in die nächste Version einfliessen zu lassen.

Hier können die in der Softwareentwicklung eingesetzten agilen Methoden auch in der Unternehmenswelt helfen: Agile Entwicklung bedeutet, in kleinen Schritten vorzugehen, Dinge auszuprobieren, Fehler zu beheben und Verbesserungen vorzunehmen. Niemals würde ich einem unserer Entwickler die Schuld geben, wenn er einen Fehler verursacht oder eine Komponente in unserer Software überarbeitet, die im Laufe der Zeit veraltet ist. Die digitale Transformation in der Unternehmenswelt bedeutet, das zu tun, was Softwareentwickler schon seit Jahren tun: Akzeptieren Sie die Tatsache, dass Fehler passieren und dass Komponenten und Konzepte schneller veraltet sind, als man denkt. Wenn Sie das mit den digitalen Prozessen in Ihrem Unternehmen schaffen, sind Sie bereit für nie dagewesene Effizienzsteigerungen und radikale Innovationen.

Niemanden zurücklassen

Oft wird die Digitalisierung als Allheilmittel angepriesen. Auch hier ist der Unterschied zwischen der Verbraucherwelt und der Unternehmenswelt zu beachten: Während ein Verbraucher für sich selbst entscheidet, ob der digitale Prozess eines Anbieters für ihn überzeugend ist, müssen Unternehmen massgeschneiderte digitale Prozesse für eine grosse Zahl von Menschen schaffen. Und es gibt immer einige Mitarbeitende, die Veränderungen nicht mögen und die dem schnellen Wandel einfach nicht mehr folgen können. Beide Arten von Menschen sind Teil Ihres Unternehmens, also müssen Sie sicherstellen, dass Sie diese nicht zurücklassen.

Eine Sache, die mir hier in den Sinn kommt, ist die Fixierung auf Dokumente. Viele Menschen haben immer noch den Wunsch, Dokumente als digitale Ausdrucke zu speichern, am besten in dem Format, an das sie sich über die Jahre gewöhnt haben. Das ist sicher nicht das Ziel von digitalen Prozessen, aber ich denke, es lohnt sich, solche Funktionalitäten in digitale Produkte einzubauen – zumindest für eine Übergangsphase. Sie können die Verfügbarkeit solcher Funktionen immer mit Benutzerrollen einschränken und die Nutzung messen, bevor Sie sich entscheiden, den Stecker für diese Legacy-Funktionen endgültig zu ziehen.

Schlussfolgerung

Die Digitalisierung hat in den letzten Jahren einen rasanten Aufschwung erlebt, was vor allem auf die überzeugenden digitalen Produkte zurückzuführen ist, die für die Verbraucher entwickelt wurden. Die nächste Grenze der Digitalisierung ist die Unternehmenswelt, in der digitale Produkte nicht nur den Bedürfnissen einer einzelnen Person, sondern einer grossen Gruppe von Mitarbeitenden gerecht werden müssen. Daher reicht es nicht aus, sich nur auf technischen Aspekten der Digitalisierung zu konzentrieren – wenn Sie Ihre Mitarbeitenden nicht mitziehen können, bringt Sie der beste digitale Prozess nicht weiter. Im Zentrum dieses Wandels stehen Iteration und Agilität – eigentlich nur zwei schicke Wort für eine offene Fehlerkultur.

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